Das menschliche Gehirn arbeitet in einer Weise, die du nicht ignorieren kannst, wenn dein Design erfolgreich werden soll. Hirnfreundliches Webdesign entscheidet über Erfolg und Misserfolg, also nimm es nicht auf die leichte Schulter.
Dass deine Designs nicht bloß rein nach ästhetischem Geschmack zu beurteilen sind, ist dir als erfahrenem Designer seit langem bewusst. Glücklicherweise hat sich gerade bei der Erstellung großer Designs, etwa für E-Commerce-Websites, die Verwendung von Nutzertestverfahren zum Standard entwickelt. Denn, auch wenn wir grundlegende Erkenntnisse des Aufbaus von Designs kennen, können einzelne Zielgruppen doch zu überraschenden Besonderheiten tendieren.
Hältst du dich an Steve Krugs alte Empfehlung, die da lautet „Don’t make me think“, also „Zwing mich nicht zum Denken“, hast du jedenfalls eine grobe Richtschnur, die die gröbsten Fehler vermeiden helfen sollte. Es kann jedoch überdies nicht schaden, wenn du ein paar grundlegende Funktionsweisen des menschlichen Gehirns näher kennst. Im folgenden wird es nicht um eher psychologische Aspekte gehen. Zu diesem Thema findest du bei uns ebenfalls Beiträge, einen davon habe ich unten in den „Links zum Thema“ hinterlegt.
Das Gehirn als Beispiel natürlicher Algorithmik
Beachte bitte, dass jetzt keine medizinisch akkurate Erklärung folgt. Die getätigten Vereinfachungen dienen dazu, dass du gerade so viel verstehst, wie es für die Arbeit erforderlich ist. Solltest du also Medizin studieren, ist der Beitrag für dich eher ungeeignet.
Das menschliche Gehirn arbeitet in sich wiederholenden Schleifen immer vom Einfachen zum Schwierigen hin. Diese Vorgehensweise versucht man heutzutage mit künstlichen neuronalen Netzen algorithmisch nachzubilden. Der Begriff „Deep Learning“ ist damit assoziiert. Diese grobe Darstellung der Arbeitsweise lässt bereits Rückschlüsse darauf zu, wie du eine Website anlegen solltest. Vom Start weg einfach zu bedienen, mit der Möglichkeit, sich in die Tiefen der Anwendung führen zu lassen.
Die verschiedenen Funktionsbereiche des menschlichen Gedächtnisses
Eines der wesentlichen Leistungsmerkmale unseres Gehirns ist das Gedächtnis. Eigentlich könnte man versucht sein, das Gedächtnis mit einer Festplatte zu vergleichen. Wie Daten auf der Festplatte, so werden Informationen im Gedächtnis gespeichert. Das allerdings greift viel zu kurz. Denn das Gedächtnis ist kein bloßer Massenspeicher, sondern teilt sich in verschiedene „Fachbereiche”. Es gibt verschiedene Methoden, das Gedächtnis zu klassifizieren. Für uns relevant ist die Unterscheidung nach der Dauer der „Speicherung“.
Das Ultrakurzzeitgedächtnis ist ein rein sensorisch arbeitender Funktionsbereich. Hier werden Sinnesreize gerade lange genug, maximal für einige Sekunden, gespeichert, um aus der Kombination mehrerer Sinnesreize einen Kontext entstehen zu lassen.
Im Arbeitsgedächtnis halten wir Inhalte für Minuten vor, die wir in einem definierten Kontext für eine Weile benötigen. Wir merken uns etwa eine Adresse, um sie unmittelbar ins Navigationsgerät einzuspeichern und haben sie unmittelbar nach erfolgreicher Eingabe schon wieder vergessen.
Das Kurzzeitgedächtnis arbeitet im Zeitbereich von einigen Stunden und stellt typischerweise eine Vorstufe des Langzeitgedächtnisses dar. Informationen, die im Kurzzeitgedächtnis liegen, können durch gezieltes Wiederholen in das Langzeitgedächtnis überführt werden. Bekannte Lernsysteme, etwa Phase 6 arbeiten nach diesem Prinzip.
Das Langzeitgedächtnis ist für die dauerhafte Speicherung von Informationen angelegt und kommt überall da zum Einsatz, wo Informationen mindestens mehrere Tage benötigt werden. Hier kann die Speicherung auch lebenslang erfolgen. Wollten wir das Gedächtnis mit einer Festplatte vergleichen, käme für diesen Vergleich am ehesten das Langzeitgedächtnis in Frage. Betrachten wir jedoch die Arbeitsweise des Langzeitgedächtnisses, wird klar, dass wir auch hier nicht von einer Art Festplatte sprechen können.
Denn das Speichern neu im Langzeitgedächtnis eintreffender Informationen erfolgt nicht einfach auf freiem Speicherplatz oder durch das Überschreiben von für die Löschung freigegebenen Daten. Vielmehr baut das Gehirn die neuen Informationen in vorhandene Strukturen ein. Es bildet quasi neue Gedächtnisinhalte, indem es an bereits vorhandene Inhalte anknüpft. Dabei spielen vorhandene Erfahrungen ebenso eine Rolle, wie grundsätzliche Fragen der Gesinnung im Allgemeinen. Mit anderen Worten: Die Informationen im Langzeitgedächtnis sind nie vollständig objektiv. Eine solche Festplatte würden wir uns nie freiwillig kaufen.
Wenn hirnfreundliches Design das Gedächtnis überwinden soll
Wo wir nun wissen, wie das menschliche Gedächtnis arbeitet, stellt sich die Frage, welches der Areale wollen wir ansprechen? Die Antwort darauf, ist wiederum mit der Frage, was wir erreichen wollen, verknüpft.
Auf der untersten Ebene müssen wir auf jeden Fall am Ultrakurzzeitgedächtnis vorbei. Hier werden Informationen nur maximal 20 Sekunden gehalten, bevor sie verschwinden. Im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen wurde bereits 1956 festgestellt, dass die Zahl erinnerbarer Informationsfetzen im Ultrakurzzeitgedächtnis bei sieben plus/minus zwei liegt. In späteren Jahren konnte konkretisiert werden, dass die Kapazitätsangabe sich auf sieben Zahlen beziehe. Bei Buchstaben läge die Kapazitätsgrenze bei sechs und bei Wörtern bei fünf.
Was bedeutet das für unser Design? Wir müssen damit rechnen, dass Menschen, die unsere Website besuchen, bereits nach wenigen Sekunden orientierungslos werden, wenn wir ihnen keine solide Führung an die Hand geben. Dabei müssen wir laut Nielsen Norman mehrere Aspekte beachten:
Die Ladezeiten unserer Seiten darf nicht so lang sein, dass laufende Transaktionen Gefahr laufen, abgebrochen zu werden, weil der Seitenaufbau zu zögerlich stattfindet. Gerade im Checkout-Prozess solltest du das beachten, sonst vergisst der potenzielle Kunde womöglich noch, dass er mitten im Kaufabschluss steckt.
Bereits besuchte Links sollten andersfarbig gekennzeichnet sein, damit der Besucher sieht, wo er bereits war. So muss er seine begrenzten Speicherplätze nicht mit nutzlosen Infos belegen. Überhaupt solltest du mit Hilfe und Unterstützung nicht sparen, damit der Ablauf des Besuches möglichst wenig von kognitiven Prozessen abhängt, die über das Ultrakurzzeitgedächtnis hinausgehen.
Willst du etwas verkaufen und bietest eine gewisse Auswahl, dann mach es für den Besucher leicht, die verschiedenen Angebote miteinander zu vergleichen. Der potenzielle Kunde wird sich die wesentlichen Eckdaten der einzelnen Angebote ansonsten nicht merken können und zum Abbruch neigen. Damit erleichterst du ihm zudem die qualifizierte Auswahl, die ansonsten durch die Natur des menschlichen Gedächtnis erschwert wird.
Kann der Mensch aus zu vielen Optionen wählen, blockiert das Gedächtnis, denn jede Option will evaluiert werden. Hierzu werden unter anderem vergangene Erfahrungen herangezogen. Werden derer zu viele gleichzeitig aktiviert, dauert die Bewertung länger als es dem Besucher möglicherweise wert sein wird. Das Prinzip der Begrenzung der Auswahl ist übrigens jenes, dass Apple seit den Nullern sehr erfolgreich nutzt.
Generell empfiehlt es sich, durch gezielte Wortwahl Verknüpfungen zu möglicherweise bereits bestehenden Informationen in anderen Gedächtnisbereichen des Gehirns zu initiieren. So erzeugst du Interesse und steigerst die Wahrscheinlichkeit, dass der Besucher dran bleibt.
Dieses Triggern von Verknüpfungen ist besonders wichtig, wenn es um das Navigationsdesign geht. Je nach Komplexität deiner Seite wird es nicht sinnvoll sein, die Navigation auf fünf bis sieben Wahlmöglichkeiten zu verkürzen, um dem Ultrakurzzeitgedächtnis deines Besuchers nicht zu hohe Anforderungen zu stellen. Der Schuss könnte sogar nach hinten losgehen, weil dich eine solche Verkürzung zwingen würde, deine Navigation sehr generisch zu gestalten. Das wiederum würde mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass sich Besucher hinter den Begriffen nichts vorstellen können, was wiederum die Interaktionsrate senken würde.
Wenn wir am Navigationsdesign arbeiten, arbeiten wir nicht in erster Linie mit dem Gedächtnis, sondern setzen auf weitergehende kognitive Prozesse. Der Besucher soll leicht erkennen, was wir jeweils anbieten und sich bewusst in die jeweilige Richtung bewegen. Dazu dienen aussagekräftige Symbole, klare Texte und etablierte Nomenklatur. Der Grundsatz des „leichten Erkennens“ wird übrigens durch das beliebte Hamburger-Menü ad absurdum geführt. Zu diesem unsäglichen Designelement schrieb ich an dieser Stelle ausführlich.
Generell können wir festhalten, dass wir im Design alles unternehmen sollten, um das Gedächtnis des potenziellen Kunden zu entlasten. Je weniger bereits sein Ultrakurzzeitgedächtnis gefordert wird, desto größer sind die Chancen, dass wir ihn bei der Stange halten.
Weiterhin darf als generelle Empfehlung gelten, einen minimalistischen Designansatz zu wählen. Das entlastet nicht nur das Gedächtnis des Besuchers, sondern erlaubt es auch, gezielt Verknüpfungen zu Erfahrungen und Erinnerungen zu triggern, die in tieferen Gedächtnisschichten angelegt sind. Hier spielt ebenfalls die Empfehlung eine Rolle, die Zahl der zu verarbeitenden Informationen so klein wie möglich zu halten.
Wenn es uns nun gelungen ist, den Besucher über die Phase des Ultrakurzzeitgedächtnisses hinweg zu behalten, muss es darum gehen, über hirnfreundliches Webdesign eine dauerhafte Bindung zu erzeugen, also ins Langzeitgedächtnis zu wechseln. Der klassische Weg dorthin führt über wiederholte Anwendung und konzentrierte Anstrengung. Beides erfordert Willensanstrengung seitens der Zielperson. Dafür können wir schwerlich sorgen.
Natürlich ist es möglich, mit einem sehr klaren und übersichtlichen Design unterschwellig den Effekt der Wiederholung zu aktivieren und uns so ins Langzeitgedächtnis des Besuchers zu „mogeln“. Die konzentrierte Anstrengung hingegen werden wir gar nicht triggern können.
Es gibt glücklicherweise einen weiteren Weg, das Langzeitgedächtnis zu entern. Der führt über Emotionen. Wenn es dir gelingt, mit deinem Design fundamentale Emotionen zu aktivieren, ist die Chance groß, nachhaltig in Erinnerung zu bleiben. Das Problem an Emotionen ist, dass es eine breite Grauzone gibt, in der Menschen auf den gleichen visuellen Reiz emotional völlig unterschiedlich reagieren. Du müsstest also unmissverständliche Akzente setzen, wärest dann aber auch in Extremen unterwegs. Ich fühle mich da nicht so wohl und unterlasse es daher, klar an Emotionen zu appellieren.
Nicht ignorieren solltest du allerdings den Faktor „Emotion“ da, wo es um die Emotionen geht, die dein UX-Design hervorruft. Eine schlechte Nutzererfahrung führt zwar dazu, dass deine Seite schnell in Vergessenheit gerät. Das dumpfe Gefühl der schlechten Erfahrung hält sich jedoch lange. Umgekehrt kann eine positive Nutzererfahrung dafür sorgen, dass Besucher gern und oft zurückkehren, weil es etwa Spaß macht, deine Seite zu besuchen oder weil sie besonders schön gestaltet ist. Die Möglichkeiten sind da vielfältig.
Links zum Thema
- How Human Memory Works: Tips for UX Designers. | UX Planet
- Short-Term Memory and Web Usability | Nielsen Norman Group
- Die Ebenen des Gedächtnisses | Gehirn und Lernen
- Die Psychologie der Farben in Marketing und Branding | Dr. Web
- Verkaufspsychologie im Webdesign: Diese 5 Tipps helfen dir bei besserem Interaction-Design
- Design principle: IKEA effect | UXDesign.cc
- 7 Proven Cognitive Biases (And How They Impact Your Design) | Sitepoint
Eine Antwort
Gut gemacht, ein Beitrag mit Nutzwert!