Alles spricht vom Mitmachweb, doch wer macht eigentlich mit? Forenbetreiber und Chat-Anbieter wissen seit langem, dass meist nur eine Handvoll User wirklich aktiv wird. Wie lässt sich entgegenwirken?
Herzlichen Glückwunsch Harriet Klausner. Die rührige Lektorin einer Bibliothek in Pennsylvania hat den „Großen Preis“ für Amazon-Buchkritiken gewonnen. Sie hat bis zum 18. März 2007 nicht weniger als 13502 Rezensionen veröffentlicht, mehr als doppelt so viel wie Lawrance Bernabo, der mit 6662 Kritiken den zweiten Platz belegt. Klausner profitiert von einer Gabe, die ihr in die Wiege gelegt wurde: Sie ist ein Schnellleser und schafft zwei Bücher pro Tag. Wenn es ihr gelungen ist, auch noch die beiden Rezensionen am gleichen Tag zu schreiben, dann hat Harriet 18,49 Jahre daran gearbeitet, den Amazon-Spitzenplatz zu erreichen. Ziemlich weitsichtig, denn der Online-Buchhandel von Jeff Bezos wurde erst vor 12 Jahren gegründet!
Harriet Klausner schreibt seit zwanzig Jahren zwei Kommentare täglich
Beteiligungssysteme repräsentieren selten den tatsächlichen Geschmack der Zielgruppe, die eine Website besucht. Sie zeigen meist nur einen kleinen Ausschnitt, nämlich den von einer überschaubaren Gruppe von Benutzern, die sich durch die Existenz eines Forums oder Kommentarsystems dazu verleiten lässt, dieses auch zu nutzen. Usability-Forscher Jakob Nielsen wertete eine Reihe empirischer Studien aus und kam zum Ergebnis, dass sich in der Regel ein 90-9-1-Schema bildet. 90 Prozent der Benutzer lesen die Inhalte nur. Neun Prozent hinterlassen gerade mal einen Kommentar oder eine Frage und nur ein Prozent der Benutzer trägt regelmäßig mit neuen Inhalten zum Wachsen der Wissensbasis bei.
Die meisten Studien, auf die sich Nielsen in einer seiner letzten Kolumnen bezieht, stammen aus der Web-1.0-Zeit. Sie analysieren die Bewegungen in Foren, Chats und Instant Messaging Systemen. Nun könnte man meinen, das Mitmachweb kommt unter dem Label Web 2.0 gerade erst in Gang und die Ergebnisse werden repräsentativer, doch das Gegenteil ist der Fall. Nielsen rechnet vor, dass es etwas über eine Milliarde Internetnutzer gibt. Dem stehen „nur“ 57 Millionen Blogs gegenüber (Quelle: Technorati). Und in diesen Blogs entstehen nur 1,6 Millionen Einträge pro Tag. Daraus folgt: Weniger als 0,1 Prozent aller Webnutzer kommentiert täglich. Selbst das Vorzeigeprojekt Wikipedia spricht von einer aktiven Nutzerbasis von 0,2 Prozent.
Mehr Beteiligung, bitte!
Halten wir Harriet zu gute, dass sie tatsächlich alle Bücher gelesen und darüber berichtet hat. Schließen wir also bewussten Missbrauch im System aus, so bleibt eine starke informative Schieflage zwischen den Lesenden und den Schreibenden. Um diese Schieflage zumindest ansatzweise zu begradigen, empfiehlt Nielsen eine Reihe von Maßnahmen, die alle darauf abzielen, das Kommentieren einfacher zu machen.
- Klicken statt schreiben: Beteiligungssysteme mit Abstimmungsmechanismen, bei denen ein einzelner Klick zur Stimmabgabe wird, werden signifikant stärker genutzt. Allerdings kann die Qualität der Inhalte darunter leiden.
- Bearbeiten statt Erzeugen: Leere Kommentarfelder, die der Benutzer zu füllen hat, erzeugen einen hohen Kreativitätsdruck, der viele Benutzer daran hindert, sich zu beteiligen. Vor gefertigte Templates, Rohlinge oder Standardantworten erleichtern den Einstieg.
- Belohnen statt Bitten: Kleine Belohnungen ziehen mehr User ins Beteiligungssystem. Die Belohnung muss degressiv gestaffelt sein, so dass der erste Beitrag höher belohnt wird als die folgenden, sonst verstärkt ein Belohnungssystem das Ungleichgewicht noch.
- Incentive statt Geld: Die gute Belohnung enthält eine qualitative Bindung zum Beteiligungssystem. Beim Bücherdienst könnte das zum Beispiel ein Preisabschlag beim nächsten Buchkauf sein.
- Klasse statt Masse: Gerade weil es nie gelingen wird, ein wirklich repräsentatives System zu erzeugen, müssen hochwertige Beitrage eine Möglichkeit bekommen, intensiver wahrgenommen zu werden als andere. Hier kommt natürlich ein Bewertungssystem für Kommentare oder Kommentierende in Betracht.
Beteiligung ohne Beteiligung
Das wichtigste Mittel zum Abbilden der tatsächlichen Nutzerpräferenzen auf einer Website ist für Nielsen aber die User-Beobachtung durch Tracking. Nielsen spricht davon, dass die Beteiligung zur automatischen Nebensache wird und nennt Amazons Funktion „Leute, die dieses Buch gekauft haben, haben auch …“ als Vorbild.
Neben solch konkreten Zusammenhängen aus der Tiefe der Datenbasis gibt es freilich auch einfachere, unsichtbare Systeme: die TopListen. Der Spiegel zeigt, welche Artikel von Lesern am Häufigsten per eMail weiter verschickt wurden. Möglicherweise ein Indiz für Lesestoff, den die Spiegel-Zielgruppe für außergewöhnlich hält. Eine Liste der bestverkauften Digitalkameras gibt dem potentiellen nächsten Käufer zumindest die Hoffnung, dass sich andere bereits intensiv mit Preis und Qualität eines Produkts auseinander gesetzt haben.
Beteiligung mit den Maustasten: Die beliebtesten Artikel der Spiegel-Leser
Auch WebSites, die nichts verkaufen, können von einer solchen „Abstimmung mit der linken Maustaste“ profitieren. Sie zeigen einfach die meistbesuchten Seiten, die beliebtesten Downloads oder die am Häufigsten gedruckten Artikel. Mit solchen Mechanismen schöpft der Sitebetreiber das Wissen und die Interessen der gesamten Zielgruppe ab und nicht nur vom besonders aktiven Teil.
Die Kehrseite der Beteiligung
Ob es eine Demokratisierung der Informationspolitik unter dem Label Web 2.0 auf Dauer geben wird, darf zumindest bezweifelt werden. Die bloße Ergänzung einer Wissensbasis in einem Beteiligungssystem ist nämlich nur eines von vielen möglichen Motiven, noch dazu ein sehr soziales. Dem gegenüber steht eine Reihe von recht handfesten Motiven, die genau das Gegenteil bewirken.
Die Rede ist von Kommentar-Spam in jedweder Form. Auch wenn Harriet Klausner vielleicht nicht dazu gehört, so haben Forscher der Cornell-University klar herausgefunden, dass auch Amazon mit diesem Problem zu kämpfen hat. Eine signifikante Reihe von Rezensionen ähnelt sich im Wortlaut. Mitunter finden sich sogar identische Kommentare für verschiedene Bücher. Das Motiv für solches Vorgehen kann sein, selbst einmal an Harriets Stelle zu treten und die Rezensentenliste anzuführen.
Eventuell geht es den Kommentatoren auch darum, Belohnungen im System zu verdienen, wie sie von Diensten wie Ciao ausgeschüttet werden. Oder eine PR-Abteilung meint, auf diesem Weg bestimmte Produkte bewerben und andere diffamieren zu können. Nielsens Credo lautet: Wo Beteiligung möglich ist, ist Missbrauch wahrscheinlich.
Es entsteht für die Anbieter solcher Systeme ein immens hoher Aufwand um die Qualität der Gesamtaussage zu sichern. Die Reiseplattform HolidayCheck beschäftigt 15 Redakteure mit dem Prüfen der Reiseberichte und Hotelbewertungen. Ein Aufwand, den sich nur die wenigsten Unternehmen leisten können und auf Dauer werden. Die Community-Vorstösse einiger Unternehmen wie zum Beispiel Tui.com werden daher äußerst kritisch beobachtet und können einem solchen System und dem dahinter stehenden Unternehmen auch schnell schaden.
Und selbst wenn alle Beteiligungssysteme und deren Kontrollmechanismen gut funktionieren, gilt es für Jakob Nielsen noch eine gewaltige Hürde zu überwinden, bis das Web die „Weisheit der Massen“ (James Surowiecki) abbildet: die Suchmaschinen. Da die Rankings sehr stark von der Verlinkung der Sites abhängen, haben die aktiven Nutzer – vor allem aus der Bloggerszene – ein mächtiges Werkzeug in der Hand um den Wissenszugang über Google und Co. zu steuern. Und das sind, wie erwähnt, nur 0,1 Prozent.
Erstveröffentlichung 20.03.2007
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