Mit dem wachsenden Erfolg sozialer Plattformen im Netz, scheinen einige Gestalter den Kontakt zur Basis verloren zu haben, entwerfen unbenutzbare Interfaces und beschriften diese mit unbekannten Begriffen. Zeit für einen Paradigmenwechsel meint Informationsarchitekt James Kalbach.
Als Bibliothekar lernte James Kalbach, große Informationsbestände sinnvoll zu strukturieren. Als Interface-Designer für LexisNexis, Razorfish und ID-Media verpackte er die Informationen ästhetisch anspruchsvoll. James Kalbach fordert ein Umdenken beim Herangehen an Informationsarchitektur im Web.
Herr Kalbach, Informations-Architektur klingt nach einem sehr theoretischen Konstrukt.
Kalbach: Ist es auch. Es ist der Versuch, mit klassischen Methoden neue Probleme in der Informationsverarbeitung zu meistern. Dabei treten in der Praxis ganz andere Probleme auf, als mit den klassischen Tools abgebildet werden können. Man muss die klassischen Methoden weiterentwickeln.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Kalbach: Nehmen Sie ein Thema wie die Analyse der Conversionrate auf Webseiten. Das ist absolut ein IA-Thema, wird aber aufgrund der Vielzahl der Einflussfaktoren meistens gar nicht analysiert. Für die Experten ist IA ein absolutes Konstrukt und sie vergessen dabei, dass das Angebot von Informationen im Netz immer zweckgerichtet erfolgt. Die Unternehmen verfolgen Business-Ziele und nur aus der Kombination dieser Ziele und der Ziele der Nutzer entsteht ein sinnvolles Arrangement der Informationen.
Worin besteht der Unterschied zur klassischen Usability-Analyse?
Kalbach: Die Usability-Spezialisten gestalten normalerweise nicht selbst – wir Informationsarchitekten schon.
Das Ziel Ihrer Arbeit ist es, dass User nach nur wenigen Klicks bereits eine strukturelle Vorstellung von einer Website bekommen?
Kalbach: Kann sein. Wenn der Nutzer schnell wüsste, was eine Site kann und macht, wäre das ideal. Doch in der Praxis ist das nicht haltbar. Das mentale Modell von einer Site bildet sich aus einer Mischung der Erfahrungen mit der aktuellen und mit anderen besuchten Websites. Da ist natürlich nur ein Teil des Designs manipulierbar.
Nutzer bilden sich in Bruchteilen von Sekunden eine Meinung über eine Website. Die passt meistens in ein übergeordnetes Meinungsschema. Während des Site-Besuchs können sich dann von Seite zu Seite die spezifischen Fragestellungen ändern und deshalb varriiert der Nutzer sein Navigationsverhalten. Wir nennen das Transitional Volatility.
Wie spiegelt sich das in der Praxis wieder?
Kalbach: Wir müssen verstehen, wann wir mit den Erwartungen der Nutzer spielen können und wann nicht. Zum Beispiel ist der Warenkorb ein linearer Prozess. Da ist kein Raum mehr für gestalterische Experimente oder gar für Cross-Selling.
Cross-Selling ist ein gutes Beispiel. In jedem Kontext ist die Empfänglichkeit für ergänzende Angebote anders. Und genau das müssen wir herausfinden. Wann ist der verführerischste Moment? Definitiv nicht an der Stelle, wo ich meine Kreditkartennummer eingebe.
Benutzertypologie und Motivation: Bei istorez wird aus der Hausfrau die Domestic Diva
Was kann ich als Siteentwickler tun?
Kalbach: Neben den Testmethoden, die greifen, wenn eine Site bereits existiert, sollte man sich im Vorfeld ein sehr gutes Bild von den Zielgruppen verschaffen. Beginnen kann man mit klassischer Gruppenarbeit. Die Beteiligten entwickeln die wichtigsten Zielgruppen. Deren Namen werden an eine Pinwand geheftet, sortiert und Dubletten ausgefiltert und dann ordnet man ihnen in einer zweiten Runde konkrete Eigenschaften und Bedürfnisse zu.
Sehr gute Erfahrungen haben wir auch mit Rollenspielen gemacht. Dabei inszeniert man den tatsächlichen Bedarfsdialog wie ein Verkaufsgespräch. Man kann sehr genau sehen, an welchen Stellen welche Zielgruppen mehr oder andere Informationen benötigen.
In einem dritten Schritt muss man dann aber auch direkt mit der Zielgruppe interagieren. Die Erkenntnisse daraus werden immer ein bisschen subjektiv sein, aber dennoch wertvoll. Ich spreche gerne von kommerzieller Ethnographie. Gute Ethnographen leben mitunter jahrelang bei den von ihnen beobachteten Volksstämmen und werden Teil von ihnen, aber in kommerziellen Situationen ist das kaum möglich, deswegen gewinnt man ähnliche Einsichten wie bei der Ethnographie schneller in der Praxis.
Und das Wichtigste, was man dabei finden kann, sind die Workarounds, die sich gebildet haben. Die Existenz eines Workaround ist ein ziemlich sicheres Indiz für einen Markt von morgen,
Wer kann sich denn so einen Vorbereitungsaufwand leisten?
Kalbach: Es ist ein absoluter Trugschluss zu denken, das wäre nur für große Unternehmen geeignet. Ganz im Gegenteil. Gerade kleine und mittlere Site-Betreiber tun sich doch nachher viel leichter, wenn sie ihre Website auf fünf oder sechs konkrete Zielgruppen hin ausrichten müssen. Es muss nur ein bisschen sorgfältiger geplant werden. Man muss sich von der Idee verabschieden, dass eine Website alles kann. Alles für alle anbieten, ist doch keine Strategie.
Wäre die klassische Unterscheidung zwischen zielgerichtetem Surfer und ziellosem Browser ein erster Ansatz?
Kalbach: Nein. Das greift viel zu kurz. Innerhalb einer Session wechseln wir mehrfach zwischen diesen beiden Verhaltensweisen. Und zwar immer dann, wenn ein kritisches Ereignis eintritt. Und genau darum geht es. Wir müssen die kritischen Ereignisse finden und dort mit der Optimierung einer Website ansetzen.
Übrigens ist das tatsächlich eine Erkenntnis aus einer sehr alten Theorie der Informationsarchitektur, dem Berrypicking.
Ich finde den Ansatz von Jared Spool zielführender. Er spricht vom „Scent of information“, also der „Witterung“, die ein Nutzer aufnimmt, wenn er mit einer Website interagiert. Der Nutzer scannt eine Seite auf der Suche nach bestimmten Schlüsselbegriffen und wenn er diese findet, klickt er. Sobald er auf eine neue Seite wechselt, baut er ein neues Informationsziel auf.
Gut gemeint, schlecht ausgeführt: Ciao verlangt Detail-Informationen vom Bewerter, die dieser eventuell nicht kennt. Hier fehlt die Option „Ich weiß nicht“
Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, wie Webdesigner denken, dass Nutzer agieren. Die denken immer, dass der User alle Möglichkeiten evaluiert und dann die wählt, die am besten passt. Das ist grundfalsch. Der Nutzer wählt die erste Option, die einigermaßen passt. Wenn ich als Verkäufer eine Upselling-Strategie verfolge, also versuche dem Nutzer mehr zu verkaufen, dann muss ich genau das berücksichtigen. Wie definiert ist das Bedürfnis des Käufers? Ist sein Bedürfnis sehr konkret, kann Upselling genau das Gegenteil von dem bewirken, was ich will. Der Nutzer wird von seiner sehr konkreten Kaufabsicht in eine weniger klar definierte Phase der Informationsgewinnung zurückgeworfen. Er wird verunsichert. Am Ende kauft er dann vielleicht gar nicht.
Können Metadatensysteme wie Tagging dabei behilflich sein?
Kalbach: Tagging wird aus meiner Sicht oft falsch verstanden. Worum geht es denn? Bei einem Dienst wie Flickr nutzt man Tagging dazu, um die Informationen für sich selbst zu strukturieren. Keeping found things found. Es ist mir doch völlig egal, ob jemand anderes mit einem Tag von mir umgehen kann. Hauptsache, ich bekomme die Information, wenn ich mit dem entsprechenden Begriff danach suche.
Tagging ist also ein spannendes Personalisierungssystem für erfahrene, sichere Nutzer. Der Einsatz als „collaborative filtering“ in Form von Tagclouds ist da eher banal. Dafür sind Tags ohne weiteres Filtering zu grob. Hier finde ich kommentierte und gewichtete Vorschläge viel spannender. Das kann auf Dauer sogar Teil eines Sortierungssystems werden.
Die Metadaten müssen aber gar nicht sichtbar gemacht werden, wie beim Tagging. Denken Sie an ein System wie Last.FM. Das ist ein lernendes Onlineradio, das sowohl aus meinen eigenen Präferenzen als auch aus denen von Gleichgesinnten ein Musikprofil definiert. Aus meiner Sicht funktioniert das sehr gut und die Vorschläge werden immer besser. So etwas werden wir mittelfristig auch im eCommerce sehen. Kleine Anbieter haben natürlich nicht die Reichweite oder Serverkapazität um das zu leisten, also wird es vielleicht Anbieter geben, die Profiling als Service anbieten.
Und natürlich wird es mehr Push-Systeme geben, die dem Nutzer aufgrund seiner eigenen Zuordnung zu Metabegriffen Vorschläge machen. Wir sehen das heute bereits bei Immobilien oder Stellenanzeigen.
Wenn Ihnen Tag-Clouds als Navigationsinstrument nicht gefallen. Wie steht es dann mit den anderen AJAX-Ansätzen wie Slidern und Tabbed Interfaces?
Kalbach: Zunächst einmal grundsätzlich: Neue Technologien haben noch nie bestehende Probleme gelöst und werden das auch im Netz nicht tun. Sie erfüllen aber zunächst einen ganz anderen Zweck. Sie können zum Beispiel zeigen, dass ein Anbieter modern ist und sich um die Qualität des Web-Angebots kümmert. Im Falle von Tags ist ja eines der wichtigsten Kriterien für deren Einsatz die Suchmaschinenoptimierung. Es sind mitunter sehr spezifische Metadaten.
Bei Slidern geht es ja um die Unterscheidung von Begriffspaaren. Das funktioniert nur, wenn diese Unterscheidung auch stimmt. Stellen Sie sich ein Angebot vor, in dem ein Slider zwischen dem Begriffspaar „Schnell – Günstig“ zu bewegen ist. Ich würde mal vermuten, dass 99 Prozent der Nutzer beides wollen, aber was machen Sie dann mit dem Schieberegler?
Da stellt sich gleich die nächste Frage. Ist es Aufgabe der jeweiligen Website, modern zu erscheinen? Der User hat gerade mal acht Sekunden Zeit, um neue Interface-Elemente zu erlernen. Gelingt es ihm in dieser Zeit nicht, wird er einen Umweg suchen … einen Workaround eben.
Herr Kalbach, vielen Dank für dieses Gespräch. (tm)
Material zum Interview:
- Präsentation zum Thema Kommerzielle Ethnographie
- Workshops im Mai in Hamburg mit Kalbach und Lou Rosenfeld
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